Liebe Wanderfreunde,
die besonderen Momente erlebt man immer dann, wenn man nicht drauf vorbereitet ist. So auch zur heutigen Sonntagswanderung, deren Planung Erik übernahm – ich wusste davon nur so viel, dass es eine Überraschung sei, mehr gab es im Vornherein nicht als Information …
Mit dem Sachsen-Böhmen-Ticket erreichten wir nach knapp zwei Stunden und wenige Augenblicke nach Zittau die deutsch-tschechische Grenze. Nach Grenzübertritt fanden wir uns wenige Halte später in Liberec wieder – vormals Reichenberg. Mit Bahn und Bus ging es anschließend zur Haltestelle „Horní Hanychov“, zu Füßen des Ještěd, auch bekannt als der Jeschken, wie Erik auf der Rückfahrt verriet …
Die Route war zumindest teilweise klar, es sollte hinauf gehen: 500 Höhenmeter über drei Kilometer, ein ordentlicher Anstieg. Doch zu Beginn der Wanderung wollte zunächst das GPS-Gerät nicht so, wie Erik und wir befanden uns irgendwo im Nirgendwo. Doch kurzerhand wurde einfach die fehlende Kachel in MapOut heruntergeladen und es konnte über den Europawanderweg EB, vormals als „Internationaler Bergwanderweg der Freundschaft“ bekannten Weg von Eisenach nach Budapest, gehen. Die ersten Höhenmeter des Tages standen an und wir begegneten auf diesem ersten Stück zahlreichen Einheimischen, die entweder mit dem Rad die Trails auf der Suche nach Bestzeiten hinunter jagten oder zu Fuß unterwegs waren.
Nach einigen Minuten Wanderung erreichten wir den ersten Abzweig, Zeit um den ersten und einzig physisch auffindbaren Cache einzusammeln, sowie menschlichen Bedürfnissen nachzugehen. Mit dem ersten Abzweig folgten auch die ersten echten Höhenmeter des Tages, denn der Bergwanderweg verdient zu Recht seinen Namen. Über knapp 1,5 Kilometer ging es so gut 220 Höhenmeter hinauf, allein die letzten 480 Meter versprachen 150 Höhenmeter. Stattliches Verhältnis. Mit der in Österreich im vergangenen Jahr erlernten und praktizierten Atemtechnik konnte auch dieser Anstieg bewältigt werden – Erik indes hing etwas hinterher, doch dies sollte kein Problem sein. Zwei Radfahrer begleiteten uns des Rest des Weges, bis Erik am Ende einer größeren Kreuzung eine Abkürzung ins Spiel warf, die uns trennte.
Die Radfahrer folgten so dem Weg in Richtung der Berghütte „Chata Pláně pod Ještědem“, während wir über die Abkürzung zum nächsten Abzweig gelangten. Zahlreiche Wanderer begegneten uns hier, und es rauschten immer wieder vereinzelte Radfahrer gen Tal an uns vorbei …
Am „Pláně pod Ještědem“ entschieden wir uns für einen Abstecher zur „Aussicht“, diese bot vielleicht vor vielen Jahren einen besseren Ausblick als heute, dennoch nutzten wir die Abgeschiedenheit für ein Foto der besonderen Art. So verschwindet diese Wanderung nicht einfach in den „langweiligen“ Fotoalben, sondern findet ihren Weg zu unzähligen weiteren Nacktwanderungen der vergangenen Jahre – auch wenn wir nicht die ganze Zeit nackt gewandert sind. Rechtlich wäre die Situation zumindest teilweise klar – einzig allein die sprachliche Barriere bleibt vorerst bestehen, doch Erik arbeitet an einer Lösung ( wenn denn der Wille vorhanden wäre 😉 ).
Vorbei ging es in der Folge an zwei Seilbahnen, in „Horní Skalka“ entschied sich Erik für ein „isotonisches“ Erfrischungsgetränk, während ich bei der tschechisch-slowakischen Erfindung „Kofola“ verblieb. Das Panorama, welches sich mit Blick auf Liberec eröffnete, war einfach zu schön, als das es nicht auf digitalen Film festgehalten werden wollte …
Der nachfolgende Weg erinnerte ein wenig an den Brocken, denn zu Füßen des Fernsehturms fand sich ein Parkplatz – Erik bereute das erste Mal, nicht mit dem Auto gefahren zu sein, aber dafür wäre ihm auch der schöne Anstieg entgangen. Erneut merkte ich, wie sehr Andreas mich in den letzten Monaten prägte: 0,5 Höhen … kilometer ist doch ein Witz und „je schneller man oben ist, um so eher kann man mit dem Abstieg beginnen“ 😂. Aber Erik meisterte auch die letzte Passage ohne Probleme, fiel ihm auf, dass es ein wenig wie die Brockenstraße sei: Die letzten 120 Höhenmeter auf rund 900 Metern hören sich nach viel an, doch der Asphalt erleichterte den Aufstieg ungemein.
Angekommen auf dem Jeschken, verschlug es uns zunächst die Sprache, bei dieser Sicht – 360 Grad, bis weit in Tschechische, als auch auf den Hochwald an der deutsch-tschechischen Grenze konnten wir blicken. Sogar das umstrittene Kohlekraftwerk nahe der polnischen Grenze war auszumachen.
Doch wir kamen nicht wegen der Aussicht, sondern wegen eines kleinen Kindes, welches von seinen Eltern auf dem fernen Planeten Erde vergessen wurde. Nein, der Kleine heißt nicht Kevin 😄. Es handelt sich um ein Kunstprojekt, erschaffen von Jaroslav Róna im Jahr 2003 …
Das Kind vom Mars oder „Marťánek“ ist eine Bronzestatue, eines Kindes von einem anderen Planeten – es ist ein weinendes Baby, dass verloren ging. Die Skulptur wurde erstmalig ausgestellt in Liberec und am 16. Juni 2010 auf dem Ještěd feierlich enthüllt.
Wir nahmen uns die Zeit für eine ausgedehnte Mittagspause, etwas abseits der Touristenwege und genossen so den Blick auf die umliegenden Vulkankegel …
Irgendwann wird es Zeit aufzubrechen, wartete doch ein Zug auf uns, denn ursprünglich sollte es über Rumburk und Sebnitz nach Dohna zurückgehen, so aber führte uns – mit Ankunft am Bahnhof in Liberec – der trilex zurück nach Dresden.
Doch so schnell ging es dann doch nicht, denn es gab noch einen Abstieg, über jenen Weg, den Erik als Aufstieg vorsah. Auch der Abstieg wies seine schönen Seiten auf und erinnerte teilweise an Wanderungen in Österreich. Wie üblich nahm der Abstieg bedeutend weniger Zeit in Anspruch, so dass wir in nichtmal einer Stunde wieder in Horní Hanychov ankamen. Letztes Abenteuer des Tages versprach uns der Busfahrer, denn die Straßenbahnlinie 3 fuhr lediglich als Ersatzverkehr: Er bewies, dass man trotzdem pünktlich am Ziel ankommt, wenn man zum Start mit Verspätung losfährt. Türen zu, die Leute können sich auch später hinsetzen und schon nahm der Ersatzverkehr-Express seine Fahrt auf, dass die Straßen in Liberec zum Teil ausbaubedürftig sind, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Erik ist dennoch nicht vom Stuhl gerutscht und jeder Fahrgast ist sicher am Ziel angekommen. Erik’s Kommentar dazu:
Wahrscheinlich ist der bei der Formel 1 entflohen.
Für uns ging es anschließend mit dem trilex zurück nach Dresden und weiter mit der S-Bahn nach Heidenau, an dem Eriks Auto schon auf uns wartete.
Zu guter Letzt: Auf dem Ještěd wurde 1963 bis 1973 ein 100 Meter hoher Fernsehturm von Karel Hubáček errichtet, doch leider fanden wir keinen Weg zu ihm hinauf – als Trost können wir euch zumindest einige Fakten präsentieren:
- Bau des Turms wurde durch Niederschlagung des Prager Frühlings am 21. August 1968 verzögert.
- Auf dem Ještěd wurde ein provisorischer Radiosender eingerichtet, der versuchte, die Bevölkerung zum zivilen Ungehorsam gegen das kommunistische Regime zu mobilisieren und bis zum 27. August 1968 unentdeckt blieb.
- Arbeiten am Bauwerk warf man „kapitalistische Bauweise“ und Verwendung von „westlichen Materialien“ vor.
- Individuelle Inneneinrichtung missfiel der politischen Führung.
- Architekt galt aufgrund des architektonischen Sonderwegs als persona non grata und durfte den Eröffnungsfeierlichkeiten am 21. Oktober 1973 nicht beiwohnen.
Heute gilt der Turm als Wahrzeichen der gesamten Region um Liberec und die Form des Bauwerkes ergänzt die Silhouette des Berges so, dass sie von weiter Entfernung als natürliche Einheit mit dem Berg wahrgenommen wird. Er besteht in den unteren 30 Metern aus einem steifen 13 Meter durchmessenden Betonkern und verjüngt sich bis auf eine Höhe von 41 Metern auf fünf Meter Durchmesser. Darüber schließt sich ein Stahlrohr bis zur Höhe von 100 Meter an.
Von unten haben wir dann doch noch ein Foto für euch einfangen können …
Oder waren wir am Ende vielleicht doch ganz oben auf dem Ještěd ?
Ich hoffe, dass euch dieser Wanderbericht gefallen hat,
euer Martin